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Matthäus 5,38-48 | 21. Sonntag nach Trinitatis | 20.10.2024

Einführung in das Matthäusevangelium

Das MtEv gehört seit seiner Entstehung zu den wichtigsten Büchern des Neuen Testaments und hat die Geschichte der weltweiten Christenheit geprägt wie kein anderes Buch. Entsprechend anhaltend ist das Interesse daran auch in der wissenschaftlichen Forschung. Allerdings hat die Durchsetzung der Mk-Prioriät im 19. Jh. das MtEv als ältestes und apostolisches Evangelium in der historisch-kritischen Forschung zurückgestuft zu einer Parteischrift judenchristlicher Gemeinden, die gegenüber anderen frühchristlichen Milieus das Festhalten an einem wörtlichen Verständnis der Tora des Mose vertraten. Damit verbunden ist die Frage, ob sich die sog. „Gemeinde des Matthäus“ noch als Teil der jüdischen Glaubens- und Volksgemeinschaft verstand (bzw. von dieser noch als Teil derselben akzeptiert wurde) oder ob das Evangelium von einer eigenständigen Entwicklung der sich auf Jesus als Messias beziehenden Gemeinschaften ausgeht, wissend, dass dies mit einem Abweichen vom Weg der Mehrheit in Israel einhergeht. In diesem Fall wird das Evangelium als Versuch einer eigenen Orts- und Zeitbestimmung in Gottes Geschichte mit seinem Volk und den Völkern der Welt verstanden. Eine zentrale Rolle in der Entscheidung dieser Frage hat das jeweils vorausgesetzte Verhältnis des Evangelisten zur Tora. Gegen das in der gegenwärtigen Forschung vielfach vertretene Verständnis eines von Mt intendierten wörtlichen Praktizierens aller Toragebote spricht, dass die kirchliche Praxis sein Evangelium nie in dieser Weise verstanden oder praktiziert hat. Die Interpretation pro Tora würde also bedeuten, dass Mt in der Kirche von Anfang an gegen seine eigene Intention gelesen und gepredigt wurde. Die Folge ist eine weitere Aushöhlung des protestantischen sola scriptura.

1. Verfasser

Das MtEv ist, wie alle neutestamentlichen Evangelien, anonym verfasst. Die Zuschreibung an Matthäus ist handschriftlich seit dem Ende des 2./Beginn des 3. Jh.s bezeugt; die älteste patristische Bezeugung stammt aus dem weitgehend verlorenen Werk des kleinasiatischen Bischofs Papias von Hierapolis. Nach ihm „hat Matthäus die Logien (Jesu) also in hebräischer Sprache zusammengestellt; es übersetzte sie aber jeder, so gut er konnte“ (Eusebius, h.e. III 39,16; Irenäus spricht von seinem „Evangelium in schriftlicher Form“, s. Adv. haer. III 1,1). Die Zuschreibung eines Evangeliums an den Apostel Matthäus bezieht sich in den ältesten Quellen jedoch nur auf das behauptete hebräische/aramäische Original. Für die vorhandene griechische Fassung wurde schon von Hieronymus festgehalten, dass der Übersetzer unbekannt ist (Vir.ill. III 1). Ohne auf die Übersetzungsfrage einzugehen, wurde das MtEv bis lange ins 19. Jh. hinein und mit nicht wenigen Vertretern bis heute als Werk des Apostels u. ehemaligen ‘Zöllners’ Matthäus angesehen. In der deutschsprachigen Forschung wird dagegen mehrheitlich ein unbekannter judenchristlicher Verfasser angenommen, der zwischen 80 und 100 das Evangelium auf der Grundlage älterer Quellen (Mk, Q, Sondergut) geschrieben hat. Die internationale u. nichtprotestantische Forschung ist in dieser Frage allerdings deutlich pluraler als die deutschsprachige Einleitungswissenschaft und Kommentarliteratur. Eine wichtige Rolle spielt in beiden exegetischen Traditionen die singuläre Referenz in der Jüngerliste Mt 10,3 (Matthäus der Zöllner), die erkennbar und absichtsvoll auf die Berufung des Zöllners Matthäus 9,9–13 (der in den Parallelen Mk 2,13–27; Lk 5,27–32 Levi heißt, woraus in der Tradition Matthäus-Levi wurde) zurückverweist. Dies wird weithin als Referenz auf den intendierten (oder eben tatsächlichen) Verfasser verstanden. Die Apostolizität – verstanden in einer Weise, dass wesentliche Teile des Inhalts auf Überlieferungen aus dem Zwölferkreis, repräsentiert durch Matthäus, zurückgehen – kann so in Einklang mit der frühchristlichen Tradition trotz des relativ späten Entstehungsdatums des kanonischen (= griechischen) MtEv vertreten werden.

2. Adressaten

Das Evangelium selbst enthält keine direkten Hinweise auf Adressaten, Abfassungszeit oder -ort. Alle diesbezüglichen Aussagen sind aus dem vorliegenden Text abgeleitet und angesichts deren Spärlichkeit entsprechend hypothetisch. Die patristischen Autoren berichten, dass Matthäus das Evangelium für die „Hebräer“ (d.h. die jüdischen Jesusgläubigen in Israel) schrieb, bevor er „zu den anderen Völkern“ gehen wollte (Eusebius, h.e. III 24 6). Die Annahme, dass das Evangelium ursprünglich an überwiegend judenchristliche Gemeinden gerichtet war und in deren Kontext entstanden ist, wird auch heute mehrheitlich vertreten. Nur wenige machten und machen sich für einen heidenchristlichen Ursprungskontext stark. Allerdings gibt es auch hier eine starke, insbesondere englischsprachige Forschungstradition, die solche Partikularadressierungen ablehnt und stattdessen von einer von Anfang an universalen Adressatenschaft ausgeht („The Gospel For All Christians“). In der deutschsprachigen Evangelienforschung dominiert dagegen ein Partikular- und Konfliktmodell, nach dem die einzelnen Evangelien an bestimmte Gemeindegruppen adressiert sind und sich dabei gleichzeitig von den Empfängergruppen der anderen Evangelien mehr oder weniger polemisch absondern. Der Zuweisung des MtEv an ein judenchristliches Milieu impliziert darum oft die Abgrenzung gegenüber anderen frühchristlichen Milieus (repräsentiert u.a. durch Paulus oder das MkEv, das Mt angeblich verdrängen oder ersetzen wollte). Damit wird das MtEv in erster Linie zu einem Zeugnis für die angenommene Konfliktgeschichte innerhalb des frühen Christentums zwischen 70 und 100, und die in ihm vermittelten Jesustraditionen gelten als so ausgewählt bzw. reformuliert, dass sie der Selbstvergewisserung dieser besonderen Gruppe dienten (die manche mit den Apg 15,5 genannten christlichen Pharisäern verbinden). Alternativ kann man im MtEv, basierend u.a. auf seiner breiten Rezeptionsgeschichte seit dem 2. Jh. in den geographisch sehr verschiedenen Milieus des frühen Christentums und im Hören auf die patristischen Traditionen, ein in seinen Anfängen apostolisches Zeugnis sehen, dessen griechische Endgestalt das Mk- und möglicherweise auch das LkEv bereits voraussetzt. In diesem Fall stellt es die abschließende synoptische Stimme im neutestamentlichen Kanon dar, in der die Verkündigung von Jesus im Kontext einer „kerygmatischen Biographie“ (so Martin Hengel) einschließlich ihrer fortlaufenden Formatierung bis ungefähr zum Jahr 85–90 enthalten ist.

3. Entstehungsort

Aufgrund der judenchristlichen Charakteristika wird häufig eine Entstehung in Antiochien vermutet, was dadurch gestützt wird, dass Bischof Ignatius von Antiochien das MtEv schon im 1. Drittel des 2. Jh.s zu kennen scheint. Aber auch andere Orte in Israel bzw. Syrien werden diskutiert. Mt 4,24f. beschreibt den unmittelbaren geographischen Radius von Jesu Wirksamkeit (und damit einen möglichen ersten Adressatenkreis), aber das Evangelium selbst lässt keinen Zweifel an seiner universalen Perspektive (24,9.14; 26,13; 28,18–20), die sich zudem in der wiederholten Erwähnung von nichtjüdischen Personen als Empfängern der guten Botschaft konkretisiert (Mt 1,5; 2,1; 8,5–13.28–34; 15,21–28; 27,54).

4. Wichtige Themen

Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die Christologie (Jesus als Sohn Davids neben der Menschensohn-Christologie), Soteriologie (Vergebung der Sünden als Zielvorgabe von Jesu Wirken [1,21] und als Vollendung [26,28: nur Mt verbindet die Worte vom Bundesschluß im Abendmahl mit der Vergebung der Sünden εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν]; Gericht und Eingang ins Leben als wichtige Orientierungspunkte) und Ethik (6,1; 7,24; 25,40.45: die Betonung des Tuns/ποιέω) aus der besonderen Perspektive hinsichtlich des Verhältnisses zu den Traditionen Israels, dem jüdischen Volk in Vergangenheit und Gegenwart sowie der Tora. Das MtEv enthält einige der bekanntesten neutestamentlichen Texte, darunter die weltweit in allen Kirchen benützte Fassung des Vaterunsers und die Bergpredigt, aber auch problematische Texte wie die große Scheltrede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt 23), die antijüdische Voreingenommenheiten (z.B. Klischees über die Pharisäer) bis heute befeuern. Diese Gefahr bestand immer dann, wenn die Entstehungssituation des Evangeliums nicht reflektiert und die polemische Rhetorik einer Gemeinde in einer bedrängten Minderheitensituation, die gleichwohl selbstbewusst für ihre Botschaft eintrat, von einer sich über das jüdische Volk erhebenden christlichen Kirche bruchlos übernommen wurde. Das wirkte sich so unheilvoll aus, weil kein Evangelium im Lauf der Kirchengeschichte mehr gepredigt wurde als Matthäus. Dabei ist es vor allem der mt Redestoff, der für katechetische und homiletische Zwecke herangezogen wurde und wird, während im Erzählstoff die farbigeren Darstellungen bei Mk und Lk bekannter sind.

5. Besonderheiten

Das MtEv enthält eine Vielzahl klar abgrenzbarer Einheiten, die in sich deutlich strukturiert sind, insbesondere durch Dreiergruppen (vgl. 1,17, wo diese Struktur sogar benannt wird) oder „chiastische Ringkompositionen“ (U. Luz). Dagegen fehlt eine erkennbare Gesamtstruktur, indem der Aufbau insgesamt eher schlicht ist: Als Auftakt die Genealogie als Brücke in Israels Geschichte und die Kindheitsgeschichte als Erfüllungsgeschehen (vier der insgesamt 12 bzw. 13 Erfüllungszitate sind in Kapitel 1–2, beginnend mit 1,22: τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν „Dieses alles aber ist geschehen, damit erfüllt werden würde, was gesagt worden ist durch …“, vgl. außerdem 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,14.35; 21,4; 26,56; 27,9), daran anschließend das Wirken in Galiläa, und ab 16,21 eine zunehmende Fokussierung auf Jerusalem; Passionsbericht und Auferstehung bilden den Abschluss. Einzelne Perikopen werden durch Schlüsselworte und gleichartige Formulierungen zu thematischen Erzählfäden verbunden, so dass sich die Gesamtsicht der mt Botschaft am besten durch wiederholtes und zusammenhängendes Lesen erschließt. Das macht es wahrscheinlich, dass das Evangelium von Anfang an für den gottesdienstlichen Gebrauch intendiert war. Herausragendes Merkmal sind die fünf großen Reden in den Kapiteln 5–7, 10, 13, 18 und 24f., die alle nahezu identisch abgeschlossen werden (7,28; 11,1; 12,53; 19,1; 26,1). Der biographisch-historische Rahmen ist durch die gleichlautenden Einleitungen in 4,17 (Ἀπὸ τότε ἤρξατο ὁ Ἰησοῦς + Infinitiv als Einleitung in das öffentliche Wirken Jesu vor allem in Galiläa) und 16,21 (als Beginn der Passionserzählung mit dem Fokus auf Jerusalem) markiert. Auch die Passionsgeschichte, die weitgehend mit Mk parallel geht, ist als Erfüllung dessen dargestellt, was der Evangelist in Israels Heiligen Schriften an Vorausverweisen auf Jesus fand (26,54.56; 27,9).

Literatur:

  • Aktueller Kommentar: Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015 (theologisch gehaltvolle Auslegung, aber kaum Hinweise auf Literatur; diese findet sich reichlich verarbeitet in dem Band: Matthias Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, WUNT 358, Tübingen 2016).
  • Grundlegend: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1-4, Neukirchen-Vluyn u.a. 1985 (5., völlig neubearbeite Aufl. 2002), 1990, 1997, 2002 (umfassendster Kommentar in deutscher Sprache mit ausführlichen Hinweisen zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte).
  • Zur Diskussion um die Tora: R. Deines, Jesus and the Torah according to the Gospel of Matthew, in: The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, hg. v. M. Seleznev, W. R. G. Loader u. K.-W. Niebuhr, WUNT 459, Tübingen 2021, 295–327 (in diesem Band auch weitere Aufsätze zu dem Thema, so dass die verschiedenen Positionen gut erkennbar sind).
  • Angelsächsische Literatur und Auslegungsgeschichte: Ian Boxall, Matthew Through the Centuries, Wiley Blackwell Bible Commentaries, Hoboken: Wiley Blackwell, 2019.

A) Exegese kompakt: Matthäus 5,38–48

38Ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη· ὀφθαλμὸν ἀντὶ ὀφθαλμοῦ καὶ ὀδόντα ἀντὶ ὀδόντος. 39ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν μὴ ἀντιστῆναι τῷ πονηρῷ· ἀλλ’ ὅστις σε ῥαπίζει εἰς τὴν δεξιὰν σιαγόνα [σου], στρέψον αὐτῷ καὶ τὴν ἄλλην· 40καὶ τῷ θέλοντί σοι κριθῆναι καὶ τὸν χιτῶνά σου λαβεῖν, ἄφες αὐτῷ καὶ τὸ ἱμάτιον· 41καὶ ὅστις σε ἀγγαρεύσει μίλιον ἕν, ὕπαγε μετ’ αὐτοῦ δύο. 42τῷ αἰτοῦντί σε δός, καὶ τὸν θέλοντα ἀπὸ σοῦ δανίσασθαι μὴ ἀποστραφῇς.

43Ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη· ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου καὶ μισήσεις τὸν ἐχθρόν σου. 44ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν· ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν καὶ προσεύχεσθε ὑπὲρ τῶν διωκόντων ὑμᾶς, 45ὅπως γένησθε υἱοὶ τοῦ πατρὸς ὑμῶν τοῦ ἐν οὐρανοῖς, ὅτι τὸν ἥλιον αὐτοῦ ἀνατέλλει ἐπὶ πονηροὺς καὶ ἀγαθοὺς καὶ βρέχει ἐπὶ δικαίους καὶ ἀδίκους. 46ἐὰν γὰρ ἀγαπήσητε τοὺς ἀγαπῶντας ὑμᾶς, τίνα μισθὸν ἔχετε; οὐχὶ καὶ οἱ τελῶναι τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν; 47καὶ ἐὰν ἀσπάσησθε τοὺς ἀδελφοὺς ὑμῶν μόνον, τί περισσὸν ποιεῖτε; οὐχὶ καὶ οἱ ἐθνικοὶ τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν; 48ἔσεσθε οὖν ὑμεῖς τέλειοι ὡς ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ οὐράνιος τέλειός ἐστιν.

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Übersetzung

38 Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: ein Auge für ein Auge und einen Zahn für einen Zahn. 39 Ich aber sage euch: Widersteht dem Bösen nicht. Stattdessen: wer immer dich auf [deine] rechte Wange schlägt, wende ihm auch die andere zu. 40 Und dem, der mit dir prozessieren will, ihm dein Untergewand zu geben, überlass ihm auch den Mantel (das Obergewand). 41 Und wer auch immer dich für eine Meile in Dienst nimmt, geh mit ihm zwei. 42 Dem, der dich bittet, gib, und von dem, der von dir borgen will, wende dich nicht weg.

43 Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, 45 damit ihr Kinder (wörtlich: Söhne) eures Vaters werdet, der in den Himmeln ist, denn er führt seine Sonne herauf über Böse und Gute und er regnet/lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Handeln nicht auch die Steuerpächter gleicherweise? 47 Und wenn ihr einzig eure Geschwister (wörtlich: Brüder) grüßt, was Überfließendes tut ihr? Handeln nicht auch die Völkermenschen gleicherweise? 48 Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer Vater, der himmlische, vollkommen ist.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.38/43: Die Einleitungsformel („ihr habt gehört…“) für die sechs, in zwei Dreiergruppen aufzuteilenden „Antithesen“ variiert leicht. Zu Beginn der Dreiereinheiten (5,21.33) steht die volle Formel, die danach verkürzt wird. Die fünfte und sechste Einleitung ist gleichlautend.

V.39/44: Das „ich aber sage euch“, einer der meistdiskutierten Sätze der Bergpredigt, wurde traditionell verstanden als Ausdruck des autoritativen Ich des Gottessohnes / Messias, der sich damit „gegen“ (Antithesen) die jüdische Tradition bzw. die Tora stelle. Andere sehen darin eine geläufige Wendung aus dem rabbinischen Lehrgespräch, die eine Gegenrede einleitet. Mt 7,29 zeigt jedoch, dass der Evangelist von einer besonderen Lehrautorität Jesu ausgeht. Dafür spricht auch der Tempuswechsel zwischen dem ersten Teil (ἐρρέθη, Aor. pass. „was gesagt worden ist“) und Jesus (ἐγὼ δὲ λέγω, Präs. akt., ὑμῖν). Viele sehen darum Jesus hier als neuen Gesetzgeber. In diesem Fall ist darauf zu achten, dass diese Gesetzgebung nicht in Widerspruch zu Mose steht: nicht Mose, sondern Gott ist der ‘erste’ Gesetzgeber (und Mose sein Mittler).

V.39: das Verb ἀνθίστημι (ἀντί „gegen“ und ἵστημι „stehen“) nimmt das doppelte ἀντί des vorangehenden Satzes auf. „Dem Bösen“ kann sachlich (das Böse) oder personal (der Böse) verstanden werden. Da in den folgenden Beispielen alle bösen Taten von Menschen ausgehen, liegt ein sachliches Verständnis nahe (weil die Menschen das Böse tun).

Das Schlagen auf die Wange (σιαγών, im NT nur hier und Lk 6,29): im AT ist das öffentliche Schlagen auf die Wange ein entehrender Vorgang (Hiob 16,9; in 1.Kön 22,24f. reagiert der Prophet ähnlich wie hier gefordert; der jesajanische Gottesknecht bietet die Wangen den Schlägen seiner Feinde an im Vertrauen auf Gottes rettendes Eingreifen, Jes 50,6f.). Einzig Matthäus redet ausdrücklich von der „rechten Wange“. Da die rechte Seite die ehrenvolle ist (vgl. Mt 26,64; Mt 25,33f.), wird damit die erlittene Entehrung unterstrichen. Matthäus hebt allerdings auch sonst die „rechte“ Seite besonders hervor (Mt 5,29f.; 6,3; 27,29), deshalb sollte darauf nicht zu viel Gewicht gelegt werden.

V.40: κριθῆναι (Inf. Aor. Pass.) ist juristischer Fachbegriff (prozessieren, ein Verfahren anstreben). Vorausgesetzt ist eine zivilrechtliche Klageandrohung (wie in Mt 5,25f.). Prozessgegenstand ist das auf dem bloßen Leib getragene leinene Untergewand (χιτών), das kostbar sein konnte (Joh 19,23) und das unter dem darüber geschlungenen Obergewand (ἱμάτιον, ein rechteckiges, über die Schultern drapiertes Tuch) sichtbar war. Der Mantel durfte nicht über Nacht gepfändet werden, weil er den Armen auch als Bettzeug diente (Ex 22,25f., Dtn 24,13). Der Versuch, einem das (auf dem Leib getragene) Untergewand mit juristischen Mitteln wegzunehmen ist als gesteigerte Rücksichtslosigkeit und Ehrverletzung zu verstehen. In der Parallele Lk 6,29b geht es nicht um ein Rechtsverfahren und die Kleidungsstücke sind in umgekehrter Reihenfolge genannt. Der von Jesus geforderten Haltung entspricht, was Paulus in 1.Kor 6,7f. schreibt. Der Verzicht auf Rechtsmittel und damit auf die Durchsetzung eigener Ansprüche ist eine herausfordernd-konkrete Form des Hinhaltens der anderen Wange.

V.41: ἀγγαρεύω (im NT nur noch in Mt 27,32 par.) bezeichnet das Auferlegen von Dienstleistungen für die Obrigkeit, die von der Bevölkerung bis zu einem bestimmten Grad zu erbringen waren. Viele Kommentare denken dabei an die römische Armee, wofür das nur hier begegnende lateinische Lehnwort μίλιον sprechen könnte. Grundsätzlich gab es „Hand- oder Spanndienste“, d.h. die Erbringung von Naturaldiensten für die Obrigkeit bzw. einen Herrscher, jedoch in allen antiken Gesellschaften. Einziger Beleg für das Verb in der jüdischen Literatur außerhalb des NT ist Josephus, Ant XIII 52, im Zitat eines Erlasses des seleukidischen Königs Demetrios I., in dem dieser auf die Heranziehung der Zugtiere von Judäern verzichtet. Es geht hier also nicht nur um Zwangsdienste für die römische Besatzungsmacht (vor 67 n.Chr. waren in Judäa kaum römische Truppen stationiert), sondern allgemein um abgeforderte Dienstleistungen, die nicht minimalistisch-verweigernd, sondern großzügig geleistet werden sollen (nächste Parallelen im NT sind Röm 13,7–10; 1.Petr 2,13–16).

V.42: δανείζω, im NT nur hier und der Parallele in Lk 6,34f., bedeutet „Geld ausleihen“ (in der Regel gegen Zins, was aber in Ex 22,24 den Israeliten untersagt ist), vgl. δανιστής „Kreditgeber“, „Geldleiher“ (Lk 7,41). In der Tora (Dtn 15,7–11; 24,10–13) und der Weisheitsliteratur (Ps 36,21.26; Spr 19,17; Sir 29,1f.) wird vielfach großzügiges Leihen angemahnt. Waren die ersten drei Beispiele so aufgebaut, dass dem erlittenen bzw. gefordertem Übel so zu begegnen sei, dass es ins Leere läuft, so geht es hier nicht um die Reaktion angesichts negativer Widerfahrnisse, sondern um die positive Aktion zugunsten eines Notleidenden. Angesprochen sind Menschen, die nicht am Existenzminimum leben, sondern über finanzielle Mittel verfügen. Dieses soziale Milieu der Angesprochenen spiegelt sich auch in der nächsten Jesusweisung, die mit V. 42 vorbereitet wird.

V.43 ist ein synthetischer Parallelismus, die beiden Zeilen bedingen und ergänzen einander.  Die erste Zeile, bestehend aus Lev 19,18, verweist auf den Nächsten, wobei primär an die unmittelbaren Mitmenschen des eigenen Volkes gedacht ist. Diese Solidarität nach innen komplementiert eine Abwehr nach außen („Feinde“), die sich aber nicht in gleicher Weise auf ein Toragebot beziehen kann. Texte wie Ps 1,1; 3,8; 15,4a; 26,4f.; 139,21f. zeigen jedoch, dass eine Abgrenzung gegenüber Feinden oder Übeltätern im eigenen Volk ebenso Bestandteil eines gerechten Lebensstils war wie die Gewissheit, dass Gott am Ende auch die Feinde Israels bestrafen wird (z.B. Ps 2,8f.; 4,6f.; 5,11; 137,8f.). Diese Haltung zeigt sich im Übrigen auch in den Maximen der Völkerwelt (vgl. Davies / Allison, Matthew 1–7, 549).

„Lieben“ und „Hassen“ sind jedoch nicht als emotionale Regungen zu verstehen, sondern als Relationsbegriffe der „Bevorzugung und Zurückweisung“ (Kessler, Maleachi, 113), wie in Mal 1,2f.; Röm 9,13. Entsprechend ist der „Feind“ in V.43 (in V.44 verschiebt sich die Bedeutung) zunächst nur der Mensch im sozialen Nahfeld, der nicht zu denen gehört, die man „liebt“ bzw. „grüßt“ (so die Beispiele in 5,46f.). Frei formuliert ist der Feind, den man hassen kann, eine Person, die einem gleichgültig bzw. unwichtig ist (vgl. für diesen relativierenden Gebrauch Gen 29,31.33: Lea wird als „die Gehasste“ bezeichnet, obwohl es in Gen 29,30 nur heißt, dass Jakob „Rahel mehr liebte als Lea“; vgl. auch Dtn 21,15–17; 22,13.16). Es ist also falsch, mit diesem Vers dem Judentum insgesamt einen religiös begründeten Hass auf seine Feinde vorzuwerfen, wie oft in antisemitischer Propaganda.

V.44 ist erneut ein synthetischer Parallelismus, gebildet aus zwei Imperativen: den Feind zu lieben heißt demnach konkret, für ihn zu beten (in Lk 6,27f. ist es vierfacher Imperativ: Lieben, Gutes tun, Segnen und Beten). Zugleich bekommt dadurch der „Feind“ ein Profil: es sind diejenigen, die „euch verfolgen“. Das verweist zurück auf 5,11, wo den Jüngern Verfolgung „wegen mir“, d.h. Jesus, angekündigt wird.

V.45: Dem doppelten Imperativ ist eine Zielangabe (finales ὅπως) zugeordnet, auf die eine Begründung (kausales ὅτι) folgt. Die den Jüngern zugesprochene Kindschaft (vgl. 5,16) erweist sich durch das in V.44 gebotene Verhalten (so auch in 5,9). Die Feindesliebe des himmlischen Vaters (hier „euer“ Vater) erweist sich in seiner schöpferischen Güte über alle Menschen. Dies wird in einem chiastisch aufgebauten Parallelismus formuliert (die beiden mit ἐπί eingeleiteten Versteile sind isokolisch, d.h. sie entsprechen sich silbengenau):

τὸν ἥλιον αὐτοῦ ἀνατέλλειἐπὶ πονηροὺς καὶ ἀγαθοὺς
καὶ βρέχει  ἐπὶ δικαίους καὶ ἀδίκους.
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Dass diese Haltung nicht Schwäche, sondern Güte ist, zeigt die ungewöhnliche Formulierung „seine Sonne“ (d.h. Gott gebietet über die Sonne) und die Tatsache, dass Gott Subjekt der beiden Verben ist.

V.46/47: die „Zöllner“ (τελῶναι: Steuerpächter, Steuereinnehmer) und die „Heiden“ (ἐθνικοί, hier als Sammelbegriff für die nichtjüdische Welt) stehen für die bisher Ausgegrenzten bzw. die Menschen, die einem im Alltag als böse, ungerecht, fremd oder feindlich begegnen.

V.47: τὶ περισσὸν ποεῖτε? Das ist die entscheidende Frage an die Jünger (bzw. die Adressaten des MtEv). Was tut ihr, das den eschatologischen Mehrwert „eurer Gerechtigkeit“ bezeugt, der ins Himmelreich führt (vgl. περισσεύω in Mt 5,20).

V.48: τέλειος: vom himmlischen Vater als gegeben ausgesagt (ἐστιν „er ist“), für die Jünger als Möglichkeit: „ihr werdet sein“ bzw. „ihr könnt sein“ (ἔσεσθε als Futur von εἰμί). Das Adjektiv τέλειος (in den Evangelien nur noch in Mt 19,21) „vollkommen“ ist nicht mit Sündlosigkeit zu verwechseln, sondern bezeichnet das vollständige (nicht nur partielle) Ausgerichtetsein auf Gott (vgl. 1.Kor 13,10).

2. Literarische Gestalt und Kontext

Der Predigttext bildet die 5. und 6. der sog. „Antithesen“, einer Besonderheit des MtEv, die sich nur in der Bergpredigt findet. Mt 5,20 leitet die „Antithesen“ ein. In zweimal drei Beispielen wird illustriert, was aufgrund der Erfüllung „aller Gerechtigkeit“ durch Jesus (3,15) möglich und erwartet wird, um „in das Himmelreich hineinzugehen“. Dabei wird das, was „zu den Vorfahren“ gesagt wurde, nicht abgewertet oder negiert, sondern als für die bis zum Kommen von Jesus gültige Norm vorausgesetzt. Die beiden Dreiergruppen sind durch die vollständige Einleitungsformel in 5,21.33 (ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη τοῖς ἀρχαίοις) markiert, wobei die Zweiteilung durch πάλιν „wiederum“ in 5,33 unterstrichen wird. Die erste Dreierreihe (5,21–32) zeigt eine zunehmende Nähe: zuerst der Mitisraelit, mit dem es Streit gibt, dann die Ehefrau eines anderen Mannes, und in 5,31 die eigene Ehefrau. Die zweite Reihe zeigt dagegen eine zunehmende Verfeindung: vom Wortstreit, bei dem man mit Schwören seinen Worten Nachdruck verleiht (5,33–37) über alltägliche Ungerechtigkeiten (5,38–42) bis hin zum „Feind“ (5,43f.).

Der jeweils einleitende Satz nimmt Bezug auf traditionelle jüdische Vorstellungen, die auf der Tora basieren oder von ihr abgeleitet sind. Dass es sich dabei nur um einengende, den eigentlichen Sinn verfehlende Auslegungen der „Pharisäer und Schriftgelehrten“ (5,20) handeln soll (so u.a. M. Konradt z.St.), geht aus dem Text, in dem weder Abwertung noch Polemik enthalten sind, nicht hervor. Vielmehr weitet Jesus das bisherige Verständnis in einer Weise, in der die für den Eingang ins Himmelreich geforderte „überfließend reiche Gerechtigkeit“ (Mt 5,20) exemplarisch illustriert wird. Ziel ist eine Neubestimmung aufgrund der von Jesus verwirklichten eschatologischen Gerechtigkeit (weshalb die „Antithesen“ besser als „eschatologische Gerechtigkeitsregeln“ oder „Jesusweisungen“ zu bezeichnen sind). Nach der gleichförmig strukturierten Einleitung (ἠκούσατε … ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν) folgt eine Reihe von konkreten Fällen, an denen sich das von Jesus Geforderte bewähren kann. Ein Vergleich mit der lk Feldrede zeigt, dass die Gestaltung von Mt 5,21–48 weitgehend auf den Evangelisten zurückgeht, der eine von Jesus gebrauchte Redeform verwendet, um eine Vielzahl ethischer Weisungen programmatisch zu ordnen.

3. Historische Einordnung

In 5,21–48 sind Mündlichkeit (hören, sagen) und Schriftlichkeit (Zitate aus dem Pentateuch) miteinander kombiniert; für die meisten Menschen zur Zeit Jesu war „Gesetz und Propheten“ eine Botschaft, die man gehört hat bzw. vorgelesen bekam; die Fähigkeit zur selbstständigen Lektüre der Hl. Schriften und die Möglichkeiten, direkten Zugang zu ihnen zu haben, war dagegen begrenzt. Die Verse setzen darum keine schriftgelehrte Auseinandersetzung voraus, sondern das setting des mündlichen Vortrags (Bergpredigt ist ein durchaus zutreffenden Begriff für Mt 5–7). Es handelt sich jedoch nicht um ein Redeprotokoll von Jesus, sondern um die kunstvolle Komposition von Jesusworten zu einer programmatischen Rede unter Verwendung von für Jesus typischen Redeformen. Jede kleinere Einheit der Bergpredigt (in diesem Fall die zwei Jesusweisungen) kann so als Quintessenz oder Ausgangsthese eines längeren Vortrags von Jesus verstanden werden.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Das Gebot zur Feindesliebe ist der inhaltliche Höhepunkt der eschatologischen Gerechtigkeitsregeln. Sie findet ihre Begründung in der Vollkommenheit Gottes (5,48; vgl. 7,11f.). Die Jünger als primäre Adressaten der Bergpredigt bewähren ihre Kindschaft (die die ganze Bergpredigt bestimmt, vgl. 5,16; 6,1.4.6.8f.14f.) mit ihrem himmlischen Vater darin, dass sie an seinem Vollkommensein partizipieren. Diese zeigt sich im unmittelbaren Kontext darin, dass er „seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte“ (5,45), d.h. Gottes Vollkommenheit ist es, dass sie auf Ausgrenzungen der Bösen und Ungerechten nicht nur verzichten kann, sondern selbst diesen die Teilhabe an seinem Reich ermöglichen will. Darum sendet er seinen Sohn als „Arzt der Kranken“ (Mt 9,12), damit auch „die Zöllner“ und „die Prostituierten“ in das Himmelreich kommen (Mt 21,32).

5. Theologische Perspektivierung

Eine kontextsensible Auslegung macht deutlich, dass die Jesusweisungen weder utopische ethische Überforderungen noch ein gesellschaftliches Programm darstellen. Es sind praktizierbare Verhaltungsweisen für die, die als „Söhne / Kinder des Vaters, der in den Himmeln ist“ (V.45) dessen Vollkommensein in der Welt repräsentieren. Um der Gewissheit des himmlischen Lohnes willen (V.46 verweist zurück auf 5,12) ist es ihnen möglich (bzw. wird ihnen zugemutet), um des Friedens willen auf die juristische oder gewaltsame Durchsetzung ihres Rechts oder ihrer Ehre zu verzichten. Das „mehr“ (περισσόν, V.47) der eschatologischen Gerechtigkeit ist die Überschreitung der alltäglichen, ‚natürlichen‘ Grenzziehungen gegenüber den „Bösen“ in welcher Form auch immer durch Wohltun (Entgegenkommen, Beten) und Begegnung (Grüßen). Pinchas Lapide hat dies als „Entfeindung“ bezeichnet. Damit kommt er der Intention der „Antithesen“ näher als der christliche Triumphalismus, der in einer kontextlosen „Feindesliebe“ die Überbietung der jüdischen Ethik findet. So wie Gott auf die guten und die bösen Menschen zugeht, so wie Jesus bei Gerechten und Ungerechten zu Gast ist, so sollen auch seine Nachfolgerinnen und Nachfolger – auch unter Verzicht auf Recht und Ehre – in einer Weise den Menschen begegnen, dass diese deren „Vater, der in den Himmeln ist“ preisen (5,16), der dadurch auch ihnen zum Vater werden kann.

Literatur

  • Deines, R.: Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias, WUNT 177, Tübingen 2004.
  • Kessler, R.: Maleachi, HThK.AT, Freiburg 2011.
  • Konradt, M.: Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen 2023.
  • Lapide, Pinchas, Entfeindung leben?, Gütersloh 1993.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Mit den Antithesen der Bergpredigt assoziieren viele die Zumutung unerfüllbarer Forderungen. Insbesondere die Weisungen zur Feindesliebe und zum Vollkommen-Sein scheinen ethische Überforderungen zu sein. Die Exegese zeigt dagegen, dass in V.38-48 praktizierbare Verhaltensweisen beschrieben werden. Die Annahme, die Jesusweisungen seien unerfüllbar, beruht darauf, dass sie abstrakt, ohne Bezug zum zeitgenössischen Kontext aufgefasst werden; es gilt daher, sie realistisch und lebensbezogen zu interpretieren. Wenn „Lieben“ und „Hassen“ nicht als emotionale Regungen, sondern als Relationsbegriffe der „Bevorzugung und Zurückweisung“ zu verstehen sind (zu V.43), wird es möglich, auch eine Person, die einem gleichgültig oder weniger wichtig ist, entgegenkommend wie einen näherstehenden Menschen zu behandeln. Man muss sie nicht mehr dem ‚natürlichen‘ Reflex folgend als ‚Feind‘ abwehren und ausgrenzen. Dies ist allerdings nicht jedem möglich, es wird auch nicht jedem zugemutet. Angesprochen sind die Jünger Jesu. Der Schlüssel zum Verständnis der 5. und 6. Antithesen liegt in V.45: die Jünger sollen sich als das bewähren, was sie sind und Jesus ihnen zuspricht, nämlich als Kinder des himmlischen Vaters, die an seinem Vollkommensein teilhaben.   Dazu, wie diese Teilhabe zu verstehen ist, gibt die Exegese einen weiteren wichtigen Hinweis. Vollkommen (V.48) heißt nicht sündlos sein. Die Vollkommenheit Gottes besteht darin, auf Ausgrenzungen der Bösen und Ungerechten nicht nur zu verzichten, sondern selbst diesen die Teilhabe an seinem Reich zu ermöglichen. Als Kinder dieses Vaters können die Jünger darauf verzichten, ihr Recht und ihre Ehre durchzusetzen. Sie können großzügig etwas für andere tun (gern ‚zu Diensten sein‘ wie gutes Servicepersonal) und ihnen in sozialen Notlagen finanziell helfen. Sie müssen nicht andere als „die Bösen“ ausgrenzen (wir hier – die dort), sondern können auch ihnen entgegenkommen, für sie beten und sie grüßen.

2. Thematische Fokussierung

Mit dem Stichwort ‚Entfeindung‘ (P. Lapide) wird eine Perspektive zur gegenwärtigen Lebenswelt eröffnet. ‚Entfeindung‘ geschieht zuerst im Denken, bevor sie im Verhalten praktiziert werden kann. Wer nicht ausgrenzend denkt bzw. aufhört, ausgrenzend zu denken, kann auch wie der himmlische Vater gütig sein zu denen, die ‚natürlicherweise‘ ausgegrenzt werden, d.h. zu Menschen, die einem im Alltag als böse, ungerecht, fremd oder feindlich begegnen. In der Predigt möchte ich in den Blick nehmen, wo mir selbst solche Menschen in meinem näheren Umfeld begegnet sind und was es mir erschwert hat, mich ihnen gegenüber so zu verhalten, wie die Jesusweisungen im MtEv den Jüngern nahelegen. Es wäre auch zu fragen, wo wir im weiteren Radius herausgefordert sind, die alltäglichen Grenzziehungen gegenüber denen zu überschreiten, die als ‚Böse‘ oder ‚Feinde‘ gelten. Dabei wäre zu beachten, wo sich eine Neigung zur Einteilung in bestimmte Gruppen oder ‚Schubladen‘ und zum politischen Freund-Feind-Denken einstellt.

3. Theologische Aktualisierung

Die eigentliche Herausforderung des Textes Mt 5,38-48 stellt sich m.E. nicht auf der ethischen Ebene, sondern auf der Ebene des Gottesverhältnisses. Jesus spricht mir bzw. der Gemeinde die Kindschaft mit dem Vater zu, den wir als ‚unseren Vater‘ ansprechen. Glaube ich dem Sohn, dass die Güte dieses himmlischen Vaters so weit reicht, dass er selbst den Bösen und Ungerechten die Teilhabe an seinem Reich ermöglichen will? Das ist die Kernfrage an den Prediger / die Predigerin, wenn sie mit diesem Text die Zuhörenden zur Nachfolge ermutigen wollen. Jesus hat selbst bis zu seinem Tod am Kreuz Feindesliebe gelebt. Das Verhalten der Christen soll und kann die Güte des himmlischen Vaters widerspiegeln. Die Weisungen Jesu regen dazu an, so von Gott zu sprechen, dass deutlich wird: Christen müssen nicht moralisch perfekt sein, sie sollten aber ein weites Herz haben, das mit Gottes grenzenloser Güte rechnet.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der Text konkretisiert das im Wochenspruch für den 21. Sonntag n. Trin. formulierte Gebot: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (Röm 12,21). Er veranschaulicht an einer Reihe von Fällen, wie dieses Gute im alltäglichen Miteinander verwirklicht wird. Geeignete Lieder sind außer dem Wochenlied „Damit aus Fremden Freunde werden“ (EG.E 31): „Gott des Himmels und der Erden“ (EG 445,1-5), „So jemand spricht: Ich liebe Gott“ (EG 412,1+5+6), evtl. auch „Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen“ (EG Hessen 628) und „Die Erde ist des Herrn“ (EG.E 32,1-4). Die Epistel Eph 6,10-17 beschreibt geistliche Waffen gegen das Böse. Die alttestamentliche Lesung Jer 29.1.4-7.10-14 rückt die soziale Dimension des Lebens in den Blick: die Aufgabe, sich für der Stadt Bestes einzusetzen im Vertrauen darauf, dass Gott Gedanken des Friedens über sein Volk hat. Die ihn suchen, werden friedensfähig.

5. Anregungen

Eine erzählende Predigt, die nah an der Lebenswelt der Gemeinde bleibt, empfiehlt sich. Wo es dafür aktuelle Anknüpfungspunkte gibt, kann die predigende Person auch auf die Frage eingehen, wie die Kirchen und Christen in der globalisierten Welt nach dem Gebot der Feindesliebe handeln können.

Autoren

  • Prof. Dr. Roland Deines (Einführung und Exegese)
  • Dr. Michael Heymel (Praktisch-theologische Resonanzen)

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