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Jesaja 62,1-5 | 4. Advent | 24.12.2023

Einführung in das Jesajabuch

1. Verfasser

Der Kern des Jesajabuches geht auf den gleichnamigen Propheten zurück, der im 8. Jahrhundert v. Chr. in Jerusalem wirkte. Spätestens die Kapitel ab Jes 40 werden aber einem zweiten Propheten zugerechnet, den man Deuterojesaja nennt. Bernhard Duhm hat in seinem Kommentar von 1892 alle Kapitel ab Jes 56 einem dritten Propheten, also Tritojesaja, zugeschrieben. Die klassische Jesajathese geht also von Protojesaja oder Erstem Jesaja (Jes 1–39), Deuterojesaja oder Zweitem Jesaja (Jes 40–55) und Tritojesaja oder Drittem Jesaja (Jes 56–66) aus.

Im Zuge der redaktionsgeschichtlichen Forschung des 20. Jahrhunderts ist der Kernbestand bei allen drei Teilen teilweise auf wenige Kapitel geschrumpft. Der Großteil wird späteren Ergänzern, Fortschreibern oder Redaktoren zugewiesen. Das hat zwei Folgen:

  • Zum einen kann man nur einen kleinen Teil der Schrift „mit Sicherheit“ dem Propheten Jesaja oder Deuterojesaja zuweisen, während der überwiegende Teil des Buches Jesaja von unbekannten Redaktoren etc. verfasst wurde.
  • Zum anderen gibt es eine stärkere Orientierung am „Sitz im Buch“, d.h. man kann die Texte meist nicht einem ganz bestimmten Zeitpunkt zuweisen, dafür aber die Stelle, in der der Text vorkommt, aus dem Buch heraus begründen.

Die Texte des Jesajabuches sind keine zufällige Sammlung von Einzelworten, sondern eine – wie auch immer geartete – Komposition oder bewusste Gestaltung. Auch die nicht redaktionsgeschichtliche Forschung erkennt im Jesajabuch bewusste und absichtliche Gestaltung, wobei auch in diesem Fall die Verfasser der Texte unbekannt sind.

2. Adressaten

Der Prophet Jesaja scheint ursprünglich ein Prophet gewesen zu sein, der mit dem Königtum verbunden war. Im Laufe der Geschichte wurden die Propheten, die Königsmacher und Propheten im Dienste des Königs waren, zur Opposition stilisiert, die Kritik am Königtum und am Volk äußerte. Der Adressat von Jes 6–8 ist der König von Juda, hingegen sind andere Texte an Zion-Jerusalem, Jakob-Israel und das Volk gerichtet. Das bedeutet letztlich allerdings nicht, dass die Texte den jeweiligen Adressaten (öffentlich) vorgetragen wurden.

Nach klassischer Sicht waren die Worte der Propheten dabei Aussprüche, die von ihnen selbst oder Schülern gesammelt worden waren und dann herausgegeben wurden. Dabei nahm man eine öffentliche Verkündigung an („Sitz im Leben“). Die jüngere Forschung deutet demgegenüber das Buch und die einzelnen Texte als schriftgelehrte Fortschreibung („Sitz im Buch“), die einen überschaubareren Leserkreis hatte.

3. Entstehungsort

Der Kern des ersten Teils des Jesajabuches ist in Jerusalem entstanden, da der Prophet Jesaja dort gewirkt hat. Es ist davon auszugehen, dass auch die anderen Texte aus Jes 1–39 dort entstanden sind.

Für Deuterojesaja hat man eine Entstehung im babylonischen Exil angenommen, da von Kyros und der Rückkehr des Volkes die Rede ist: Das Volk im Exil wird dort angesprochen, nun wieder in die Heimat zurückzukehren. Die Rückkehrer oder Deuterojesaja höchstpersönlich hätten dann seine Prophetien nach Jerusalem gebracht und dort mit dem ersten Jesajabuch verbunden. Tritojesaja sei dann später (ebenfalls in Jerusalem) angefügt worden.

Für eine Entstehung in Jerusalem spricht, dass es im Kern Deuterojesajas um die Wiedergewinnung Jhwhs für Jakob-Israel geht. Das Gericht und das Exil nehmen mit Kyros ein Ende, weil Babylon, das ehemalige Gerichtswerkzeug Jhwhs, von Kyros erobert und damit besiegt wird. Dieser Untergang bedeutet, dass Jhwh wieder nach Jerusalem zurückkehrt (Jes 40,1–11; 52,7–10) und Jerusalem das Zentrum der Welt wird (Jes 60). Außerdem liegt Babylon nach eigener Sicht wohl nicht am Ende der Welt, wie es Jes 41,9 indirekt behauptet. Eine solche Sichtweise passt nicht zu Babylon als Abfassungsort, da sie sich dort kaum durchgesetzt hätte, weil dort eine Diaspora bestehen blieb und nicht zurückgekehrt ist – anders als die Zion-Texte in Jes 40–66 behaupten (vgl. bes. Jes 52,11f.).

4. Wichtige Themen

Zion durchzieht das Jesajabuch wie kein zweites Thema. Neben z. B. Jes 1,21–26; 2,1–5; 37,33–38; 49,14–52,10; 54,1–17; 65 und 66 sind die drei großen Kapitel Jes 60–62 zu nennen. Die Rettung des Zion vor den Assyrern, selbst wenn es sie historisch gesehen wohl so nicht gegeben hat, ist der Kern des vorexilischen Jesajabuches. Mit Deuterojesaja und den Ereignissen um Kyros und den Fall Babylons werden dieser Erzählung weitere Zion-Texte hinzugefügt, die Jhwhs Rückkehr zum Zion (Jes 52,8) als Beginn einer neuen Zeit feiern.

Literatur:

  • Becker, U., 2022, The Book of Isaiah. Its Composition History, in: Lena-Sofie Tiemeyer (Hg.), The Oxford Handbook of Isaiah, Oxford, 37–56.
  • Steck, O.H., 1992, Zion als Gelände und Gestalt. Überlegungen zur Wahrnehmung Jerusalems als Stadt und Frau im Alten Testament, in: ders., Gottesknecht und Zion. Gesammelte Aufsätze zu Deuterojesaja, FAT 4, Tübingen, 126–145.

Einführung Tritojesaja

Tritojesaja (Jes 56–66) ist eine wissenschaftliche Hypothese von Bernhard Duhm, der diesen Textabschnitt in seinem Kommentar von 1892 einem dritten und von damit von Deuterojesaja unterschiedenen Propheten zuweist. Die literarische Einheit von Tritojesaja war schon zuvor und ist auch noch danach umstritten gewesen, sodass man heutzutage nicht mehr von einem eigenständigen Propheten ausgeht, sondern von Fortschreibung von proto- und deuterojesajanischen Texten. Den Kern von Tritojesaja sieht man dabei in Jes 60–62, worauf Jes 56–59 zulaufen. Jes 63–66 entwickeln wiederum Jes 60–62 fort.

Für die Entstehungszeit muss man die nachexilische Zeit annehmen. Die Septuaginta-Übersetzung des Jesajabuches, die man in das 3. oder 2. Jahrhundert v. Chr. datiert, wird man als untere Grenze für die Entstehung Tritojesajas annehmen müssen. Somit bleiben das 5. bis 3. Jahrhundert als Entstehungszeitraum zur Verfügung – eine Zeit also, in der Jerusalem nicht selbstständig war, sondern unter Fremdherrschaft der Perser und der Seleukiden bzw. Ptolemäer stand. Es geht in Jes 56–66 um das Heil – wahrscheinlich im Zeitalter des Hellenismus, als griechische und orientalische Kultur sich zu verschmelzen begannen und die religiöse und kulturelle Identität infrage gestellt wurde.

Literatur

  • Berges, U., 2022, Jesaja 55–66. Übers. und ausgelegt, HThK.AT, Freiburg i. Br..
  • Kratz, R.G., 2002, Art. Tritojesaja, in: TRE 34, 124–130.
  • Steck, O.H., 1991, Studien zu Tritojesaja, BZAW 203, Berlin/New York.
  • Zapff, B., 2006, Jesaja 56–66, NEB.AT 37, Würzburg.

A) Exegese kompakt: Jesaja 62,1-5

Wann wird Gottes Versprechung wahr?

1לְמַ֤עַן צִיּוֹן֙ לֹ֣א אֶחֱשֶׁ֔ה וּלְמַ֥עַן יְרוּשָׁלִַ֖ם לֹ֣א אֶשְׁק֑וֹט עַד־יֵצֵ֤א כַנֹּ֨גַהּ֙ צִדְקָ֔הּ וִישׁוּעָתָ֖הּ כְּלַפִּ֥יד יִבְעָֽר׃ 2וְרָא֤וּ גוֹיִם֙ צִדְקֵ֔ךְ וְכָל־מְלָכִ֖ים כְּבוֹדֵ֑ךְ וְקֹ֤רָא לָךְ֙ שֵׁ֣ם חָדָ֔שׁ אֲשֶׁ֛ר פִּ֥י יְהוָ֖ה יִקֳּבֶֽנּוּ׃ 3וְהָיִ֛יתְ עֲטֶ֥רֶת תִּפְאֶ֖רֶת בְּיַד־יְהוָ֑ה וּצְנִ֥וף מְלוּכָ֖ה בְּכַף־אֱלֹהָֽיִךְ׃ 4לֹֽא־יֵאָמֵר֩ לָ֨ךְ ע֜וֹד עֲזוּבָ֗ה וּלְאַרְצֵךְ֙ לֹא־יֵאָמֵ֥ר עוֹד֙ שְׁמָמָ֔ה כִּ֣י לָ֗ךְ יִקָּרֵא֙ חֶפְצִי־בָ֔הּ וּלְאַרְצֵ֖ךְ בְּעוּלָ֑ה כִּֽי־חָפֵ֤ץ יְהוָה֙ בָּ֔ךְ וְאַרְצֵ֖ךְ תִּבָּעֵֽל׃ 5כִּֽי־יִבְעַ֤ל בָּחוּר֙ בְּתוּלָ֔ה יִבְעָל֖וּךְ בָּנָ֑יִךְ וּמְשֹׂ֤ושׂ חָתָן֙ עַל־כַּלָּ֔ה יָשִׂ֥ישׂ עָלַ֖יִךְ אֱלֹהָֽיִךְ׃
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Übersetzung

1 Zions wegen schweige ich nicht,

Jerusalems wegen bin ich nicht ruhig,

bis seine Gerechtigkeit hinausgeht wie ein Strahl,

und sein Heil wie eine brennende Fackel.

2 Und die Völker werden deine Gerechtigkeit schauen,

und alle Könige deine Herrlichkeit.

Und du wirst genannt werden mit einem neuen Namen,

den der Mund Jhwhs festgesetzt hat.

3 Und du wirst die Krone der Herrlichkeit in der Hand Jhwhs sein,

und der Königsturban wird in der Hand deines Gottes sein.

4 Nicht wird man mehr zu dir sagen „Verlassene“

und zu deinem Land wird man nicht mehr sagen „Verwüstet“,

denn dich wird man nennen „Mein Gefallen ruht auf ihr“

und dein Land „In Besitz genommen“,

denn Jhwh hat an dir Gefallen gefunden

und dein Land ist in Besitz genommen.

5 Denn wie der Bräutigam die Jungfrau heiratet,

so werden dich deine Söhne in Besitz nehmen,

und wie der Bräutigam wegen seiner Braut jubelt,

so wird deinetwegen dein Gott jubeln.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 3: צְנִיף מְלוּכׇה – Königsturban (Gesenius18 z. St.)

V. 5: Der Vers spielt mit den unterschiedlichen Wortbedeutungen bzw. -kontexten von בעל „herrschen, in Besitz nehmen; zur Frau nehmen, heiraten“. Die Vergleiche in diesem Vers erschließen sich nur aus dem Zusammenhang, normalerweise werden sie mit כַּאֲשֶׁר undכֵּן konstruiert.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Dieses Heilswort versichert Zion eine grundlegend neue Zukunft, weil diese sich anscheinend verzögert. V. 1 leitet den Text ein, V. 2–5 sind dann an Zion/Jerusalem gerichtet. Sprecher ist nicht Jhwh, sondern ein Ich, das an dieser Stelle nicht näher bestimmt wird. Geht man davon aus, dass dieses Kapitel schon ein Großjesajabuch kennt, dann werden die Worte dem (Buch-)Propheten Jesaja in den Mund gelegt. Das Geschick Zions/Jerusalems ändert sich durch Gottes Gerechtigkeit und Heil – aber beides lässt auf sich warten. Das Ich will und muss zu Zion/Jerusalem sprechen und nicht schweigen, weil Gott offensichtlich schweigt (V. 1).

3. Historische Einordnung

Jes 62 ist der Abschluss von Jes 60–62. In Jes 60 wird Zion/Jerusalem zum Zentrum der Welt, zu dem die ganze Welt inklusive verschiedener Viehherden kommt. In Jes 61 ergreift ein Ich das Wort und spricht von der Trostbotschaft für die Elenden und Gefangenen (V. 1). Für die einen ergreift hier der Knecht Jhwhs das Wort, der aus den vier Gottesknechtsliedern bekannt ist (Jes 42,1–7; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12; vgl. aber auch Jes 44,1). Für manche schlüpft hier Zion selbst in die Rolle des Knechts (Kratz). Grob gesagt, erschafft Jes 60 die Szenerie und führt die Zuhörer heran, die dann in Jes 61 lauschen, was mit dem Volk Jhwhs geschieht, ehe Jes 62 – auf Grund einer eingetretenen Verzögerung (V. 1) – ein für alle Mal deutlich macht, dass Zions Zukunft endgültig ein gutes Ende nimmt.

Jes 62 ähnelt dabei sehr stark Jes 49,14–52,3* bzw. Jes 54. In Jes 49,14 klagt Zion, von Gott verlassen zu sein. In Jes 52,8 kehrt er nach bzw. zu Zion zurück, in Jes 60,15 wird ihr versprochen, dass sich ihre Verlassenheit zum Guten wandeln wird, in Jes 62,4 wird ihr ein neuer Name gegeben: „Mein Gefallen ruht auf ihr“. Die Rückkehr Jhwhs ermöglicht die Rückkehr der Exilierten (Jes 51,11; 52,11f.; 55,12), die laut Jes 62,5 auch Zion und deren Land wieder in Besitz nehmen werden – beides, so suggeriert es der Text, sei vorher leer und verlassen gewesen. Auch die Nationen und alle ihre Könige werden in diesem Text wieder zu Zeugen berufen (V. 2), die das Heil Gottes bewundernd anerkennen sollen (vgl. Jes 60,3). Das Motiv der Verlassenheit und der folgenden Ehe findet sich schon in Jes 54,5–8.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Das sogenannte, aber auch umstrittene dreigliedrige eschatologische Schema, das sich noch am besten in Ezechiel und Jesaja nachweisen lässt, verkündet nach dem Unheil für das eigene Volk und dem Unheil für die Fremdvölker dem eigenen Volk eine neue, glorreiche Zukunft. Deuterojesaja sieht in der Eroberung Babylons und dem Eroberer Kyros (Jes 45,1f.) eine neue Zeit angebrochen, die Heil für Jerusalem bedeutet (Jes 44,28). Das Geschick Zions/Jerusalems bestimmt dann auch die zweite Hälfte Deuterojesajas und die Kernkapitel Jes 60–62. Was ändert sich, wenn Gott für Zion/Jerusalem alles zum Guten wendet? Genau diese Wendung ist die Voraussetzung für ein gutes Ende des Volkes Israel, das nicht nur die Stadt und das Land wieder in Besitz nehmen darf, sondern damit auch am Heil der Stadt teilhat. Das Heil und das Gute für Zion ist zugleich das Heil und das Gute für das Volk.

5. Theologische Perspektivierung

In diesem Text wird der endgültige Wandel von Zions/Jerusalems Geschick angesagt, eine Wende um 180 Grad. Zion ist nicht mehr von Jhwh verlassen (Jes 49,14), ihr Land nicht mehr verwüstet, sondern beides von ihren Söhnen wieder in Besitz genommen (Jes 62,5). War die Zerstörung Jerusalems und die Wegführung ins Exil der Tiefpunkt der Geschichte Israels mit Jhwh, so redet dieser Text von einer neuen, anderen, guten kommenden Zeit.

Da laut Jes 62,1 das alles anscheinend noch nicht eingetreten ist, lässt sich frech auch von einer Parusieverzögerung sprechen: Das Heil für Zion ist noch nicht erschienen!

Dass Zion/Jerusalem hier ein endgültiges Heil verkündet wird, mündet später in die Erwartung eines neuen Jerusalems, das vom Himmel auf die Erde herabkommt (vgl. Apk 3,12). Das neue Jerusalem ist damit mehr als eine Stadt, sondern Veranschaulichung von Gottes neuer Schöpfung.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese bestärkt die Wahrnehmung, dass der Predigttext zwar kohärent und aus sich selbst heraus verständlich ist, dass aber eigentlich erst die Einbindung in den großen Erzählzusammenhang des Jesajabuches und seine Textgeschichte eine angemessene Auslegung ermöglicht. D. h. um seinen Sinn zu erschließen, braucht es den weiten erzählerischen Horizont des Buches und darüber hinaus gehende intertextuelle Perspektiven, aus denen sich Motive herleiten und in denen thematische (theologische, historische) Akzente erkennbar und plausibel werden. Das betrifft etwa die Klagetexte, in denen Jerusalem als Witwe oder verlassene Mutter bezeichnet wird (z. B. Klgl 1,7-11), die Texte, in denen Jerusalem als abtrünnige, ehebrecherische Frau Jahwes angeklagt wird Texte (z. B. Hos 2,4-15) – bis hin zu den Heilsankündigungen wie hier in Jes 62,4f., die Zion als Braut Jahwes und geachtete Mutter vieler Kinder ansprechen. Damit reiht sich die Predigt als weiterer Schritt (in zeitlich viel größerem Abstand und ohne kanonischen Anspruch) in eine Auslegungspraxis ein, die bereits innerhalb der Prophetenbücher beginnt und überlieferte Texte situationsbezogen immer neu aktualisiert. Ein – zugegeben: ziemlich pädagogisch-hermeneutisches und damit allenfalls sekundäres – Anliegen der Predigt könnte es sein, bei den Hörer:innen auch ein Bewusstsein zu wecken für eben diese Einsicht: dass die biblischen Texte schon innerhalb der Bibel in veränderten Situationen neu gehört und aktualisierend kommentiert wurden. Gottes Wort wurde immer als Wort für die jeweilige Zeit gehört. Das heißt auch: zu bestimmten Zeiten anders gehört. Und das ist erhaben über jeden Vorwurf, das Wort der Schrift dem Zeitgeist anzupassen.

2. Thematische Fokussierung

Die Exegese rückt den Predigttext in den Horizont des Jesajabuches und sachlich in den Kontext der Geschichte des Alten Israel. Damit rückt sie ihn freilich erst einmal in Distanz zu uns, unserer Lebenswelt und unserem Lebensgefühl – so kurz vor Weihnachten allzumal.

Mit dem Berg Zion als religiösem Kultort und der Stadt Jerusalem als politisch-religiöser Metropole sind geographische und symbolische Koordinaten aufgerufen, die uns mitteleuropäischen Menschen nur mittelbar vertraut sind: aus Nachrichtenmeldungen, als Reiseerfahrungen mit 2000 Jahren Zeitdifferenz, oder als kulturhistorische Phänomene. Eine politisch und religiös umkämpfte Stadt im Visier rivalisierender Machtansprüche, mit nachhaltig labilen Friedensperspektiven, Gott sei’s geklagt. Aber Jerusalem ist eben nicht Berlin oder Brüssel. Damit bleibt vieles von dem, was der Bibeltext an politischen Implikationen und politischer Sehnsucht bietet, nur in einem abgeleiteten Sinn nachvollziehbar. Die Hoffnung, die aus Jes 62 spricht – dass aus dem verlassenen Jerusalem und dem zerstörten Tempel eine glänzende Gottesstadt wird, das in alle Welt ausstrahlt, und die neu in Besitz genommen, d. h. wiederbesiedelt wird von ihren Söhnen, also von der aus der Zerstreuung gesammelten Bevölkerung – ist in ihrem ungebrochenen Universalismus bzw. Zentralismus nicht unproblematisch. Vor allem aber steht sie in heftigem Kontrast zu allem, was aus Geschichte und Gegenwart über diesen Ort zu sagen ist (vgl. Joseph Croitoru, Al-Aqsa oder Tempelberg. Der ewige Kampf um Jerusalems Heilige Stätten, München 2021).

Und bei aller Liebe zur Poesie und Ästhetik, mit der das Verhältnis zwischen der Gottheit und der Stadt in den Kategorien einer traditionellen Ehe beschrieben wird, mit den Bewohnern als Kindern – diese religiöse Metaphorik ist für Viele das Relikt einer sozialen Wirklichkeit, deren patriarchale Grundmuster nicht nur in den Kategorien einer gendergerechten Schriftauslegung fragwürdig sind.

Gleichwohl begegnet eben diese Ehe-Metapher – neutestamentlich neu kontextualisiert durch das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen (Mt 25,1-13) – durchaus prägnant in der adventlich-eschatologischen Bildwelt. Philipp Nicolais Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (Evangelisches Gesangbuch, Nr. 147, entstanden 1597/98) greift sowohl auf das Jesajabuch als auch auf Mt 25 zurück: „Zion hört die Wächter singen“, „Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig“, „Nun komm, du werte Kron“ usw. (Strophe 2). Und auch der Text von Johann Sebastian Bachs bekannter Kantate über den Choral kombiniert Motive aus dem Gleichnis Mt 25 mit biblischen Anspielungen aus dem Hohelied (Hld 2; 3,4.8.11; 6,3; 8,2 u. a.), dem Hoseabuch (2,21) und ausdrücklich auch aus dem Jesajabuch (35,10; 62,11): „Er kommt, er kommt / Der Bräutgam kommt! / Ihr Töchter Zions, kommt heraus, / Sein Ausgang eilet aus der Höhe / In euer Mutter Haus.“, „Wann kommst du, mein Heil? / Ich komme, dein Teil.“, „So geh herein zu mir, / Du mir erwählte Braut!“ usw. („Wachet auf, ruft uns die Stimme“, BWV 140, entstanden 1731). Und auch der Adventsklassiker „Tochter Zion, freue dich“ (Evangelisches Gesangbuch, Nr. 13) transportiert – trotz aller ausdrücklichen Bezüge zum Friedefürst und Davidssohn – ein Stück dieser hochzeitlich-königlichen Bildwelt samt der zugehörigen musikalischen Atmosphäre.

3. Theologische Aktualisierung

Wenn die Predigt den Text ernst nimmt, muss sie von den politisch-religiösen Erwartungen der nachexilischen Zeit auf die Wiederherstellung Jerusalems und eine universelle Anziehungskraft des Zion für die Welt in die adventliche, eigentlich genauer: vorweihnachtliche Gegenwart führen. Was für ein Zeitsprung! Und Themenwechsel! Zum Glück gibt es die dramaturgische Homiletik mit ihren Moves.

Leitmotiv könnte die Vorfreude sein. In Jes 62 ist sie überschwänglich zu greifen in der Dynamik des Textes und in der Ausdruckskraft der Bilder (nicht schweigen oder ruhig bleiben, Strahlen, Fackellicht, Herrlichkeit, Krone und Diadem).

In der Sache richtet die Vorfreude sich auf das grundlegend Neue, das durch Gottes Handeln in der Geschichte angestoßen wird: Aus der Verlassenen wird die Begehrte (V. 4). Der Neuanfang ist verbunden mit einem neuen Namen (V. 2). Das Motiv des Neuen, das Gott schafft, zieht sich von der Ankündigung in Jes 43,19 bis hin zur Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde in Jes 51,16; 65,16.17 (und Offb 21,1).

Die Verheißung, die sich im Predigttext zunächst ganz konkret auf Jerusalem und den Berg Zion bezieht, wird schon dort ausgeweitet auf alle Völker (V. 2). Diese universale Perspektive bezieht auch uns mit ein. Mit der Geburt Jesu erfährt dieses Neue einen weiteren Akzent, der in der Welt- und Religionsgeschichte bis heute seine Spuren hinterlässt. Gott handelt und verändert die Dinge. Immer wieder. Manchmal gegen jeden Augenschein. Das ist keine naive Hoffnung – auch wenn es immer wieder so etikettiert wird.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Die Vorfreude ist das Leitthema des vierten Adventssonntags. Es wird vom Wochenspruch („Freuet euch in dem Herr allewege […] Der Herr ist nahe!“ Phil 4,4.5b) und von den beiden Wochenliedern („Nun jauchzet all, ihr Frommen EG 9; „O komm, o komm, du Morgenstern“ EG 19, dort bes. im Refrain) intoniert.

In der Evangeliumslesung (Lk 1,26-38[39-56]) richtet sich die Vorfreude auf die bevorstehende Geburt Jesu; die Predigttexte der Reihe I (das Magnificat Lk 1,[26-38]39-56) und III (die Ankündigung der wundersamen Geburt Isaaks 1. Mose 181-2.9-15) nehmen das auf. In der Epistel (Phil 4,4-7) gilt die Vorfreude der bevorstehenden Wiederkunft Christi.

Daneben gibt es am 4. Advent einen zweiten Strang von Texten, in denen sich die Freude auf die Wiederherstellung der Stadt Jerusalem richtet: der Wochenpsalm (Ps 102,1314.16–18.20–23 „wenn der Herr Zion wieder baut“) und Jes 62,1–5. Jes 62 ist im Zuge der Revision der „Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder“ neu in die Reihe der alttestamentlichen Texte aufgenommen und dem 4. Advent zugeordnet worden. In der Church of England ist er für den 1. Christtag (dritter Gottesdienst, AT-Lesung) bzw. für den 2. Sonntag nach Epiphanias (erster Gottesdienst, AT-Lesung Reihe C) vorgesehen. Aber auch der Text, den er ersetzt (Jes 52,7–10) hatte die Vorfreude auf die Wiederherstellung Jerusalems zum Thema. In der Dynamik des Adventskalenders richtet sich die Vorfreude freilich primär auf das nun immer unmittelbarer bevorstehende Christfest.

5. Anregungen

Wie politisch kann eine Predigt am vierten Advent sein? Wie passt die Beschäftigung mit ganz konkreten Zukunftsfragen zur verbreiteten Vorweihnachtsromantik (in all ihrer Gebrochenheit)? Ist es eine Option vom kirchenjahreszeitlichen Rahmen zu schweigen ? – Wie schön wäre es, wenn das Dauergeplappere von Weihnachten einmal Pause machen würde!

Aber ist das eine Option: von Advent und Weihnachten zu schweigen (einfach ignorieren…)? Es gibt ja ganz unterschiedliche Formen des Schweigens: vornehm, schüchtern-verzagt, des Redens müde geworden, beredt, …

Es wird schön. Neu. Alles wird anders. – Aber wie gehen wir mit enttäuschten Erwartungen um?

Welchen prophetischen Auftrag könnte dieser Bibeltext für Weihnachten haben? Lässt er sich als ein Brief (eine Weihnachtskarte) an die Verzagten, die Skeptiker und die Weihnachtsmuffel lesen? „Morgen, Kinder, wirds was geben! / Morgen werden wir uns freun! / Welche Wonne, welches Leben / Wird in unserm Hause seyn; / Einmal werden wir noch wach, / Heysa, dann ist Weihnachtstag! // Wie wird dann die Stube glänzen / Von der großen Lichterzahl! / Schöner, als bey frohen Tänzen / Ein geputzter Kronensaal. / Wißt ihr noch, wie vor’ges Jahr / Es am heil’gen Abend war?“ (Karl Friedrich Splittegarb 1795)

Autoren

  • Dr. Alexander Weidner (Einführung und Exegese)
  • Dr. Johannes Goldenstein (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500004

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