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2. Korinther 8,7-9 | Christfest II | 26.12.2023

Einführung in den 2. Korintherbrief

Der 2 Kor ist Teil einer umfangreichen Korrespondenz des Paulus mit der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth. Vorangegangen sind ein heute verloren Brief (erwähnt in 1 Kor 5,9) und der 1 Kor.

1. Verfasser

Paulus ist der einzige ntl. Autor, über den wir genauere Kenntnisse haben. Geboren (vermutlich zwischen 1 und 10 n.Chr.) in Tarsus, ist die Zeit vor seiner Berufung (32/33 v.Chr.) nur in Umrissen erkennbar; über die Zeit bis zum Beginn der selbständigen Mission in Europa (Philippi: 50 n.Chr.) gibt es schon wesentlich mehr Nachrichten, und über die letzten rund 12 Jahre seines Wirkens, d.h. bis zur Hinrichtung in Rom 62 n.Chr., liegen die meisten Informationen vor.

2. Adressaten

Die im Jahre 51/52 n.Chr. gegründete „ekklesia“ war in sich keine homogene Einheit, wie bereits aus 1 Kor 1-3 hervorgeht. Sie war Teil einer sich dynamisch entwickelnden Hafen- und Handelsstadt, und auch selbst eine lebhafte Gemeinde, die sich offenbar rasch entwickelte und in sich recht komplex war. In der Zeit nach der Abreise des Paulus aus Korinth hat es intensive Kontakte mit anderen Gemeinden gegeben, und Missionare aus anderen Gemeinden sind mit Empfehlungsbriefen von diesen nach Korinth gekommen (2 Kor 3,1-3). Sie haben offenbar ein anderes Apostelbild vertreten. Paulus nennt sie ironisch „Überapostel“ (11,5). Trotz ihrer Selbstbezeichnung als „Hebräer, Israeliten, Same Abrahams und Diener Christi“ (11,22f) vertraten sie keine judaistischen Forderungen, etwa die der Beschneidung (anders also als in Galatien). Die neuere Forschung ist insgesamt vorsichtig geworden, diese Gegner möglichst genau bestimmen zu wollen. Die Gemeinde in Korinth war eindeutig das Sorgenkind des Paulus, aber gerade mit ihr hatte er auch die umfangreichste Korrespondenz.

3. Entstehungsort

Ob es ‚den‘ einen Entstehungsort gab, hängt davon ab, ob man den vorliegenden 2 Kor als Brief ansieht, der einheitlich abgefasst und abgeschickt worden ist, oder ob man ihn als eine spätere Kompilation mehrerer ursprünglich eigenständiger Briefe beurteilt. In der Literatur wird unter der Voraussetzung der Einheitlichkeit als Zeit der Spätherbst 55 und als Ort Makedonien, (d.h. eine der dortigen christlichen Gemeinden) genannt. Dies beruht auf den Angaben in 2,12f; 7,5-7. Rechnet man mit mehreren Briefen, sind Ort und Zeit der Abfassung für die einzelnen Briefe getrennt zu klären.

4. Wichtige Themen

Die Frage der Briefkompilation:

Ein in der Exegese des 2 Kor bis heute umstrittene Frage ist, ob  es sich bei diesem Text um ein einheitlichen Brief handelt, ob er also in der vorliegenden Form abgefasst und als ganzer abgeschickt worden ist, oder ob es sich um eine Zusammenstellung mehrerer ursprünglich einzeln verfasster Briefe handelt. Grund für die Debatte sind massive Schwierigkeiten, die gegen die Einheitlichkeit sprechen:

1. In 2 Kor 7,5-16 herrscht (nach einer überwundenen Krise) volles Vertrauen zwischen Paulus und der Gemeinde, dagegen tobt in 10,1-13,10 der offene Kampf (vgl. 13,1-10). Daher wird dieser Teil oft als eigenständiger Brief („Tränenbrief“ [s. 2,4]) oder „Kampfbrief“) angesehen (so E.-M. Becker, D.-A. Koch, F. Lang, M.M. Mitchell).

2. Auch innerhalb von 1,1-9,15 gibt es erhebliche Spannungen:

  1. 1.Die in 2,12f begonnene Erzählung von der Reise des Paulus, um Titus zu treffen, wird abrupt unterbrochen und erst in 7,5 fortgesetzt. Dafür gibt es in den übrigen Briefen des Paulus keine Parallele.
  2. 2.In 6,12f; 7,2-4 (also direkt vor dem Neueinsatz 7,5) findet sich zudem ein Briefschluss, der sich von dem in 7,16 deutlich unterscheidet: Hier, in 6,12f; 7,2-4, wirbt Paulus um das Vertrauen der Gemeinde, das nach 7,15f doch vollständig wiederhergestellt ist.
  3. 3.In Kap 8 und 9 wird zweimal die geplante Kollekte für die Gemeinde in Korinth behandelt. Beide Kapitel sind untereinander unverbunden und haben auch keine Verbindung zu den übrigen Teilen des Briefes.
  4. 4.Schließlich ist 6,14-7,1 ein Fremdkörper, der mit seiner scharfen Abgrenzung nach außen wichtigen Aussagen des 1 Kor widerspricht und häufig für unpaulinisch gehalten wird (so F. Lang, D.-A. Koch, M.M. Mitchell).

Nimmt man ernst, dass hier ganz unterschiedliche Situationen im Verhältnis zwischen dem Apostel und seiner Gemeinde sichtbar werden, ist eine einheitliche Interpretation kaum möglich, auch wenn dies immer wieder versucht wird (so Th. Schmeller). Eine mögliche Rekonstruktion der Briefabfolge (und der Krise zwischen Apostel und Gemeinde) rechnet mit 5 Briefen (so M.M. Mitchell; D.-A. Koch):

Brief A: „1. Kollektenbrief“ (2 Kor 8; Mai 54): Paulus versucht die Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem (vgl. 1 Kor 16,1-4), die in Korinth zwischenzeitlich ins Stocken geraten ist, wieder in Gang zu bringen. Kurz danach hat Paulus neue Nachrichten aus Korinth, die besagen, dass nicht nur die Kollekte, sondern auch sein Apostelamt insgesamt in Frage gestellt wird. Die Reaktion ist:

Brief B: „Apologie“ (2 Kor 2,14-6,13; 7,2-4; Juni 54): Paulus verteidigt sein Verständnis des Apostelamtes in klarem, aber ruhigem Ton. Im August 54 reist Paulus spontan von Ephesus nach Korinth, um direkt die Probleme zu klären („Zwischenbesuch“). Der Besuch endet in einer offenen Konfrontation. Paulus reist ab. Es droht der offene Bruch. Die Reaktion ist:

Brief C: sog. „Tränenbrief“ bzw. „Kampfbrief“ (2 Kor 10,1-13,10; August 54); Paulus verfasst eine harte Attacke, um die Gemeinde zur Umkehr zu bewegen, und schickt Titus mit diesem Brief nach Korinth.

Die Briefe A/B/C sind von Ephesus aus verfasst. Danach reist Paulus zunächst nach Alexandria Troas, hat dort keine Nachricht von Titus, reist diesem im Winter 54/55 nach Makedonien entgegen (2,12f; 7,5-7); dort trifft er Titus, der von der erfolgreichen Versöhnung berichtet. Die Reaktion ist:

Brief D: „Versöhnungsbrief“ (2 Kor 1,1-2,13; 7,5-16; Frühjahr 55): Paulus klärt letzte offene Fragen und bestätigt seinerseits die Versöhnung.

Brief E: „2. Kollektenbrief“ (2 Kor 9; April/Mai 55): Die wiederaufgenommene Kollekte soll möglichst bald beendet werden.

Verfasst sind die beiden letzten Briefe in einer Gemeinde in Makedonien (also Philippi, Thessaloniki oder Beroia). Anders als der 1 Kor sind die im 2 Kor zusammengefassten Briefe nicht einzeln abgeschrieben und an andere Gemeinden weitergegeben worden, was angesichts der heftigen Angriffe in 10,1-13,10 auch nicht verwunderlich ist. Die Zusammenstellung der Briefe und deren Veröffentlichung als einheitlicher Text erfolgte erst später, im Zusammenhang mit der Sammlung der Paulsubriefe Ende des 1. Jh. n.Chr. Jetzt war die Krise zwischen Paulus und der Gemeinde in Korinth längst Vergangenheit, andererseits war man daran interessiert, möglichst viel von den zeitübergreifenden Einsichten und Aussagen des Apostels für die Gegenwart und die Zukunft zu bewahren. Dagegen tritt das Interesse an der ursprünglichen Abfassungssituation zurück, was sich auch daran zeigt, dass die Briefe nicht in chronologischer Abfolge angeordnet sind wobei die massive Polemik des "Kampfbriefs" erst am Ende erscheint (10,1-13,10). In diesem Zusammenhang wurde auch das unpaulinische Stück 6,14-7,1 eingefügt, das mit seiner Forderung nach scharfer Abgrenzung nach außen ein Gegengewicht gegen deutlich anders ausgerichtete Aussagen des 1Kor (so 1 Kor 5,10; 7,12-14) bilden soll.

5. Inhaltliche Schwerpunkte

Zentrales Thema von „Apologie“ und „Kampfbrief“ ist das Apostelamt, und zwar insbesondere die Schwachheit und das Leiden des Apostels. Dies passt nicht zu dem offensichtlich vielfach erwünschten Bild eines religiösen Heros, der in seiner Person die Überlegenheit der eigenen Botschaft anschaulich werden lässt. Paulus nimmt diese Kritik auf, ohne sich ihr anzupassen. Im Gegenteil: Wenn er der Apostel des Gekreuzigten ist (vgl. 1 Kor 2,2), dann sind Schwachheit und Leiden kein Zufall. Natürlich hebt Paulus die Größe seines „Dienstes“ hervor, der eine διακονία τοῦ πεύματος, ein „Dienst des Geistes“ ist (3,8), aber: „Wir haben diesen Schatz in tönernen Gefäßen“ (4,6). Insofern ist es kein Zufall, dass es in beiden Briefen B und C, den umfangreichsten Briefen innerhalb der Briefkompilation, sogar jeweils zwei Leidenskataloge gibt (Brief B „Apologie“: 4,8f; 6,4-10 / Brief C „Kampfbrief“: 11,24-29; 12,10). Die Aussagen über das Apostelamt kulminieren in der geradezu klassischen Definition dieses Amtes, das auf dem Versöhnungshandeln Gottes beruht und in dem seinerseits das Apostelamt als „Dienst der Versöhnung“ (5,16-6,2) seinen Ursprung hat. Daneben gibt es in 3,12-18 hermeneutisch höchst relevante Ausführungen über das Verständnis der Schrift angesichts des Christusgeschehens, und in 5,1-10 nimmt Paulus eine in 1 Kor 15 aufgeworfene Frage wieder auf: die Frage nach der Leiblichkeit im Zusammenhang mit der Totenauferstehung und die Frage nach der endzeitlichen Christusgemeinschaft der Glaubenden.

Literatur:

  • Eve-Marie Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, NET 4, Tübingen 2002.
  • Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 22014, 214‒315. 333‒337.
  • Margret M. Mitchell, Art. Korintherbriefe, RGG4 4, 2001, 1688–1694.

Kommentare

  • Friedrich Lang, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen 1986.
  • Thomas Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther. Teilband I. 2 Kor 11,–7,4, EKK 7/1, Neukirchen-Vluyn/Ostfildern 2010.
  • Margaret E. Thrall, The Second Epistle to the Corinthians, Volume I. Introduction and Commentary on II Corinthians I–VII / Volume II. Commentary on Corinthians VIII–XII, ICC, Edinburgh 1994 und 2000.

Einführung zum Kollektenbrief 2 Kor 8,1-24

Die Durchführung der beim sog. „Apostelkonzil“ vereinbarten Kollekte für die Urgemeinde in Jerusalem (Gal 2,10) hat Paulus längere Zeit intensiv beschäftigt, und zwar am Schluss seiner Tätigkeit im östlichen Teil des Römischen Reichs. Mit ihr wollte er sein Missionswerk im Osten vollenden. Sie sollte nämlich der sichtbare Ausdruck der Kirchengemeinschaft zwischen Jerusalem und den Gemeinden in Makedonien und Achaia sein, also zwischen der Ursprungsgemeinde, die ganz im jüdischen Kontext lebte, und den von Paulus gegründeten  Missionsgemeinden, für die die jüdischen Identitätsmerkmale wie Speisegebote und Beschneidung nicht mehr galten. Diese Kollekte war z.Zt. der Abfassung des 1 Kor bereits in Gang (vgl. 1 Kor 16,1-4). Zwischenzeitlich hatte die Kollektenaktion in den makedonischen Gemeinden (dazu gehörten Philippi, Thessaloniki, Beroia) gute Fortschritte gemacht (2 Kor 8,1-5), während sie in Korinth ins Stocken geraten ist. Paulus schreibt den Kollektenbrief 2 Kor 8 (der neben 2 Kor 9 ein eigenständiger Brief ist; s.o.), um die Gemeinde in Korinth zur Wiederaufnahme der Kollektenaktion zu bewegen. Um diesem Wunsch Nachdruck zu verleihen, schickt Paulus seinen Mitarbeiter Titus und zwei weitere ‚Brüder‘ nach Korinth, und 2 Kor 8,1-24 ist faktisch die Beglaubigung und Beauftragung dieser Delegation. Charakteristisch ist, dass Paulus dabei nicht nur organisatorische Anordnungen trifft, sondern die Wiederaufnahme der Kollekte auch inhaltlich-theologisch begründet.

Das Thema ist auch sozialgeschichtlich interessant. In der Antike gab es durchaus eine beachtliche Spendenbereitschaft. Man spendete für den eigenen Verein, das Theater oder einen Tempel. Auch ärmere Einwohner spendeten, dann legte man dafür zusammen und finanzierte gemeinsam etwas, aber natürlich etwas in der eigenen Stadt. Dagegen für die „Armen“ zu spenden (Röm 15,26) und dazu noch in einer ganz anderen Stadt, das fiel völlig aus dem Rahmen. Insofern ist es durchaus verständlich, dass die Kollektenaktion des Paulus in Korinth zeitweilig zum Erliegen gekommen ist. Umso höher ist auf der anderen Seite das Engagement der Gemeinden in Makedonien zu bewerten, das Paulus auch mit Recht überschwänglich lobt (8,1-5).

A) Exegese kompakt: 2 Korinther 8,7-9

Armer Christus - reiche Gemeinde

7Ἀλλ’ ὥσπερ ἐν παντὶ περισσεύετε, πίστει καὶ λόγῳ καὶ γνώσει καὶ πάσῃ σπουδῇ καὶ τῇ ἐξ ἡμῶν ἐν ὑμῖν ἀγάπῃ, ἵνα καὶ ἐν ταύτῃ τῇ χάριτι περισσεύητε. 8Οὐ κατ’ ἐπιταγὴν λέγω ἀλλὰ διὰ τῆς ἑτέρων σπουδῆς καὶ τὸ τῆς ὑμετέρας ἀγάπης γνήσιον δοκιμάζων· 9γινώσκετε γὰρ τὴν χάριν τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ, ὅτι δι’ ὑμᾶς ἐπτώχευσεν πλούσιος ὤν, ἵνα ὑμεῖς τῇ ἐκείνου πτωχείᾳ πλουτήσητε.

2. Korinther 8:7-9NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

7 Aber wie ihr an allem reich seid, in Glauben, in Rede, in Erkenntnis, in allem Eifer und in der von uns unter euch (bewirkten) Liebe, (so wünsche ich euch), dass ihr auch in dieser Gnade reich seid.

8 Nicht als Befehl sage ich (das), sondern um durch den Eifer der anderen auch die Echtheit eurer Liebe zu erproben.

9 Ihr kennt ja die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Um euretwillen wurde er arm, obwohl er reich war, damit ihr durch seine Armut reich werdet.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

Am Ende von V. 7 verwendet Paulus den Begriff „Gnade“, um damit die Kollekte für Jerusalem zu bezeichnen. „Gnade“ ist in 2 Kor 8,1-24 insgesamt das zentrale theologische Leitwort und stellt die entscheidende Weichenstellung für das inhaltliche Verständnis der Kollekte dar. Sie ist ‚Gnade‘, d.h. eine den Gemeinden geschenkte Möglichkeit, und besteht inhaltlich in der „Teilnahme am Dienst für die Heiligen“ (V. 4). Mit χάρις kann Paulus aber auch die Kollekte selbst bezeichnen (V. 6f, dann V. 19 und zuvor schon 1 Kor 16,3). Sie ist „Gnadengabe“ bzw. „Gnadenwerk“, das die Geber mindestens genauso betrifft wie die Empfänger.

2. Kontext, Gedankengang und Argumentation des Textes

In V. 1-5 hat Paulus zunächst den großen Eifer dargestellt, mit dem sich die makedonischen Gemeinden an der Kollekte für Jerusalem beteiligen, natürlich um die Gemeinde in Korinth zu motivieren, sich diesem Beispiel anzuschließen.

In V. 6 hat Paulus dann die Bereitschaft seines Mitarbeiters Titus beschrieben, sich für die Kollekte zu engagieren und erneut in dieser Angelegenheit nach Korinth zu reisen. Er war ja schon bei Beginn dieser Aktion in Korinth gewesen.

Ab V. 7 wendet sich Paulus an die Gemeinde in Korinth, und zwar mit einer sog. captatio benevolentiae, d.h. mit einem bewusst freundlichen, ja lobenden Briefbeginn, mit dem der Verfasser das Wohlwollen seiner Adressaten gewinnen möchte, um sie für sein Anliegen geneigt zu machen. Das bedeutet aber nicht, dass es sich um reine Höflichkeitsfloskeln handelt. Die Gaben, die Paulus nennt, ‚Glaube, Rede und Erkenntnis‘, sind nicht zufällig ausgewählt. So erwähnt Paulus ‚Rede‘ und ‚Erkenntnis‘ auch am Beginn des 1. Korintherbriefs (1 Kor 1,5). Diese Gaben markieren den inneren Reichtum der Gemeinde, die ihr als Gnade Gottes geschenkt ist (1 Kor 1,4). Später in 1Kor kommt Paulus nochmals ausführlicher auf die vielfältigen Gnadengaben zu sprechen (1 Kor 12,1-30). Hieran knüpft Paulus an und betont den Reichtum der Gemeinde an diesen Gnadengaben.

Stärker situationsbezogen sind dann die folgenden Stichworte ‚Eifer‘ und ‚Liebe‘. Sie zielen auf die Praxis des Miteinanders in der Gemeinde. Denn zu dem Reichtum an ‚Glaube, Rede und Erkenntnis‘ soll jetzt der Reichtum an der "Gnade" kommen, nämlich am Gnadenwerk der Kollekte.

Allerdings formuliert Paulus seine Bitte sehr vorsichtig. Den eigentlich in V. 7 notwendigen Satzteil "so wünsche ich euch, dass …" unterschlägt er. Außerdem fügt er in V. 8 sofort hinzu, dass er das nicht als Befehl formuliert. Dem entspricht es, wenn er in V. 10 sagt, dass er den Korinthern lediglich seine persönliche ‚Meinung‘ mitteilt.

In V. 9 folgt dann die zentrale christologische Begründung für den 'Reichtum' der Gemeinde: Es ist Christus, der 'arm' geworden ist, und genau darauf beruht der 'Reichtum' der Gemeinde. Diese Aussage kommt recht unvermittelt. Es gibt für sie in der Gesamtheit der Briefe des Paulus keine Parallele. Dennoch ist sie kein Fremdkörper innerhalb der Theologie des Paulus. Erinnern kann – und muss – man hier an die Inkarnationsaussage von Phil 2,6-8, dass der, der in göttlicher Gestalt war, dennoch menschliche Gestalt, ja die Gestalt eines Knechts annahm. Hier in 2 Kor 8,9 wird die Menschwerdung Christi, die Weihnachten gefeiert wird, als Grundlage des Reichtums der Gemeinde erkennbar. Dieser ihr geschenkte Reichtum, das ist stillschweigend impliziert, kann es der Gemeinde auch ermöglichen, ihrerseits großzügig und hilfsbereit zu sein, sich also wieder an der Kollekte für Jerusalem zu beteiligen. Allerdings muss sofort ein mögliches Missverständnis ausgeschaltet werden: Das Geschick Christi, seine Selbstentäußerung, wird hier nicht als Vorbild verstanden, dem die Gemeinde entsprechen soll, etwa in der Weise, dass sie ihrerseits ebenfalls 'arm' werden soll. Im Gegenteil: Ab V. 13 sagt Paulus ausdrücklich, die Kollekte soll nicht zur Folge haben, dass die Korinther nun arm werden sollen, damit andere reich werden. Ziel ist vielmehr ein finanzieller Ausgleich zwischen reich und arm.

3. Theologische Perspektivierung

Die Ausführungen stehen im Zusammenhang der Kollektenaktion. Aber die Aufforderung zur Wiederaufnahme wird von Paulus nicht kurzschlüssig in direkter Linie aus der Armut Christi abgeleitet. Es geht zunächst grundsätzlich darum, dass durch Christi Armut die Gemeinde reich beschenkt ist, und das ist die Grundlage, von der sie lebt. Dieser in der Tat immaterielle Reichtum kann dann dazu führen, darüber nachzudenken, was auch im materiellen Bereich als Unterstützung möglich ist. Solche Unterstützung, die keineswegs zur Selbstpreisgabe führen soll, kann nicht nur Gnade(ngabe) für die Empfänger, sondern auch segensreich für die Geber selbst sein.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese ermuntert mich zur Predigt. Die Kollekte wird als „Gnade“ verständlich, als geschenkte Möglichkeit zur Großzügigkeit und Ausdruck von Gemeinschaft. Die Auslegung der christologischen Grundlage für Reichtum der Gemeinde erschließt den Charakter der Gnadengabe. Schließlich zeigt die Exegese, wie vorsichtig Paulus sein Anliegen formuliert.

2. Thematische Fokussierung

Paulus wirbt in der Gemeinde in Korinth für die Wiederaufnahme der Geldsammlung für die Gemeinde in Jerusalem. Die Exegese macht deutlich, dass diese Sammlung nach Paulus über eine materielle Unterstützung hinausgeht. In ihr manifestiert sich die Kirchengemeinschaft zwischen den Gemeinden. Am Anfang steht die dankbare Erkenntnis, durch Christi Armut reich beschenkt zu sein. Fähigkeiten dienen dem Miteinander, wenn sie unter dem Vorzeichen des Eifers für einander und der Liebe stehen. Das gleiche gilt für materiellen Reichtum: Die Gnade zeigt sich in dem Vermögen, hilfsbereit sein zu können.

3. Theologische Aktualisierung

Die Kirche sei „wie ein Fitnessstudio, das man nicht nutzt und seit Jahren zahlt“, lautet einer Studie zufolge eine typische Austrittsbegründung (vgl. Ahrens). Auch heute müssen Zuwendungen, die nicht der Abwägung von Kosten und eigenem Nutzen entspringen, erst plausibel gemacht werden. Zugleich lässt sich in unseren Gemeinden eine hohe Hilfs- und Spendenbereitschaft (Eifer und Liebe) finden. Der Text ermöglicht einen entsprechenden Perspektivenwechsel. Paulus befiehlt die Kollekte nicht und bleibt nicht bei Appellen stehen. Er verweist auf Christus. Dieser ist, wie E. Jüngel formuliert, „in dem reich, in dem wir arm sind“, so dass, wer sich den Tausch mit Christus gefallen lässt, sich „als Empfänger dieser überströmenden Liebe“ wahrnehmen kann. Auch eine Geldsammlung, die anderen zugutekommt, wird in dieser Wahrnehmung zur Gnadengabe. Wer gibt, soll nicht überfordert werden. Mit dem Gedanken eines finanziellen Ausgleichs kommt eine Maßgabe für ein solidarisches Finanzmanagement zwischen Gemeinden und Kirchen in den Blick.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Paulus stellt der Gemeinde vor Augen, was die Menschwerdung für sie bedeutet. Mit dem Motiv vom „wunderbaren Tausch“ (vgl. Bieritz) bringt der Text zum Christfest II eine wesentliche Deutungsfigur für den Sinn der Menschwerdung zur Sprache. Lieder nehmen das Motiv auf:  „Er ist auf Erden kommen arm, dass er unser sich erbarm“, dichtete Martin Luther (EG 23,6). Das Lied „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich" (EG 27) beschreibt den „wunderlichen Wechsel" von Gottessohn und Menschen. Als Text zum Martinstag kann die Perikope an den Ermöglichungsgrund für Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft erinnern.

5. Anregungen

In unseren Weihnachtsgottesdiensten wird mit vertrauten Liedern, festlichen Kantaten und Motetten die Menschwerdung Christi gefeiert. Wer am zweiten Christtag in die Kirche kommt, sucht eine Gemeinschaft, die über Familien- und Freundeskreise (oder ihr Fehlen!) hinausgeht. So liegt es m.E. nahe, an den „wunderbaren Tausch“ zu erinnern und danach zu fragen, welche gemeinschaftsbildenden Gaben der Gemeinde geschenkt sind. Vielerorts haben Haupt- und Ehrenamtliche mit der Aktion #wärmewinter bzw. „Orte der Wärme“ erlebt, wieviel sie gemeinsam mit anderen gegen Einsamkeit und den Abbruch sozialer Kontakte bewirken können. Gnadengaben sind segensreich für alle. Ich fühle mich angeregt, an ökumenische Erfahrungen anzuknüpfen und einen Besuch bei den presbyterianischen Partnerkirchen der Norddeutschen Mission in Togo und Ghana im Lichte der Gnadengaben zu verstehen. Die lebendigen Gottesdienste, die Begegnungen mit jungen Menschen einer Berufsschule, mit Frauen, die gemeinsam auf Kirchengrund Früchte anbauen, mit Krankenschwestern, die mit einfachen Mitteln eine ganze Region versorgen, haben mich beschenkt. Die deutschen Partnerkirchen unterstützen diese Arbeit. Alle haben miteinander teil am Reichtum der Gnade. 

Literatur

  • Petra-Angela Ahrens, Kirchenaustritte 2018 – Wege und Anlässe. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung.  SI-Studien aktuell 1, Baden-Baden 2022, 21.
  • Karl-Heinrich Bieritz, Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart. Beck'sche Reihe 447, München 1991, 171f.
  • Jan Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011, 216-218.
  • Eberhard Jüngel, Von Zeit zu Zeit. Betrachtungen zu den Festzeiten im Kirchenjahr, Bovenden 1996, 13.
  • https://www.kirchensteuer-wirkt.de/
  • https://www.norddeutschemission.de/start

Autoren

  • Prof. a.D. Dr. Dietrich-Alex Koch (Einführung und Exegese)
  • Dr. Bernd Kuschnerus (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500008

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